Warum ist entscheiden eigentlich so schwierig?
Kurz vor der Pandemie war es en vogue, über das Reisen zu sinnieren. Begriffe wie Flugscham oder Staycation geisterten durch das Internet. Bevölkerten Print- und TV-Nachrichten. Man hatte fast Hemmungen, über spektakuläre Reiseziele zu sprechen oder gar Bilder davon in den sozialen Netzwerken zu teilen, weil die Debatte um den CO2 Fußabdruck nicht versiegten. Gleichzeitig etablierte sich eine gewisse Trotzhaltung, eine „Jetzt-erst-recht“-Mentalität. Gerade in Zeiten, in denen noch kurz zuvor der Postmaterialismus ausgerufen wurde und „in Erlebnisse anstatt in Dinge“ investiert werden sollte, schienen diese konträren Reaktionen aus Unsicherheit und Trotz nicht überraschend. Corona hat diese Bewegungen vorerst stillgelegt, doch es scheint mir, dass mit den zunehmenden Lockerungen die Themen Reisen und Entscheidungen schleichend wieder an Präsenz gewinnen.
Neben der ökologischen Debatte ist gerade die Vielfalt an Optionen eine Herausforderung unserer Gegenwart, die das Treffen von Entscheidungen zu einer immer zentraleren Aufgabe unseres Lebens werden lässt. Ich erinnere mich an die Worte von Tom Hanks’ Figur Jo Fox in dem Film Email für dich:
The whole purpose of places like Starbucks is for people with no decision making ability whatsoever to make six decisions just to buy one cup of coffee. […] So people who don’t know what the hell they’re doing and who on earth they are, can, for only $2,95 get not just a cup of coffee but an absolutely defining sense of self.
1998 erschienen, bringt der Film hier eine Gegebenheit auf den Punkt, die unseren Alltag immer stärker bestimmt, uns jedoch nicht, wie im Zitat scherzhaft angemerkt, zu entscheidungsfreudigen, zielorientierten Menschen macht, sondern stattdessen Unsicherheit hervorruft, Stress erzeugt und Lebenszeit beansprucht. Nicht nur, dass neben Voll- und Magermilch nun auch Kokos-, Hafer- und Mandelmilch Einzug in die Kaffee-Auswahl gefunden haben – im Zuge der fortschreitenden Individualisierung wird jede Handlung zu einer mentalen Herkulesaufgabe und wir zu Mikro-Managern unseres Leben.
Fluch und Segen zugleich, hat die wachsende Fülle an Möglichkeiten die Kraft, unseren Verstand so sehr lahmzulegen, dass allzu häufig über uns entschieden wird anstatt von uns. Beeinflusst von Bildern, Videos und Texten, die aus allen Richtungen auf uns einströmen und stets zu wissen scheinen, was wir genau in diesem Moment brauchen, bleibt uns wenig anderes übrig, als Resignation. Wir überlassen unser Handeln dem Außen und beschreiten den einfachsten Weg der Entscheidungsfindung: Wir nehmen das, was uns im richtigen Moment vor der Nase baumelt. Und das ist nicht selten bestimmt von den Datenbergen, die Internet-Riesen wie Facebook, Google, Amazon oder Apple über unser Verhalten gesammelt haben.
Ein Faktor, der zu unserem Entscheidungsproblem führt, ist die begrenzte Zeit, die uns pro Tag zur verfügung steht. Eine wertvolle Ressource, deren Schwinden uns nicht nur selbst auffällt, sondern auch ständig von Außen in Erinnerung gerufen wird. Und je höher der Wert der Zeit bemessen wird, desto stärker wächst der Druck auf den Einzelnen, sie sinnvoll zu nutzen, denn derart wertvolles Kapital zu verschwenden wäre schließlich absoluter Wahnsinn und ein klarer Verstoß gegen die Prinzipien der freien Marktwirtschaft. Es hat nur wenige Tage gedauert, bis dem Corona-Lockdown in den Sozialen Netzwerken die ersten Anweisungen folgten, wie die gewonnene Zeit bestmöglich genutzt werden könne.
Und so versuchen wir, jeden noch so kurzen Moment mit Inhalten zu füllen. Glücklicherweise hat das Werkzeug, das wir zu diesem Zweck brauchen, im letzten Jahrzehnt Einzug in unser Leben gehalten. Ob an der Bushaltestelle, im Wartezimmer oder beim Laufen, über unsere Smartphones sind wir „always on“ und ständig mit der Welt verbunden. So hören wir Podcasts auf dem Weg zur Arbeit, tauschen uns mit Freunden und Familie in Chatgruppen aus oder checken das aktuelle Geschehen auf Instagram und Facebook, als Unterhaltungssnack für zwischendurch. Ist unsere Welt wirklich so ereignisreich geworden, dass wir nur durch ständige Updates mithalten können oder haben wir schlicht verlernt, die Leere eines Moments auszuhalten.
Als Informationsjunkies beschäftigt mit dem blinden Konsum digitaler Inhalte, nehmen wir die beschleunigte Bewegung der Zeit oft erst nachträglich wahr. Doch der Wunsch nach Langsamkeit kam nicht erst mit der Erfindung der Smartphones in unser Leben. Einen besonders lauten Appell aus der nahen Vergangenheit geht zurück auf das Jahr 1986 und mündet in der Gründung der sog. Slow-Bewegung durch Carlo Petrini. Als Ursache gilt die Eröffnung der ersten italienischen Niederlassung von Mc Donalds in Rom, die Petrini als Affront gegen die einheimische Küche verstand, die schließlich auf den Werten von Zeit, Genuss und Wertschätzung bei der Auswahl und der Zubereitung des geliebten Essens basierte, plädierte Petrini für die Relevanz ursprünglicher Rezepte, lokaler Gerichte und guter Zutaten und damit für das kulturelle Erbe seines Landes.
Nun erreicht uns also täglich eine große Anzahl gut gemeinter Ratschläge darüber, was wir mit unserer Zeit anfangen sollten, die wir, entscheidungs-unfreudig, wie wir sind, dankend annehmen. Doch denken wir zurück an die vermeintliche Basis unseres Entscheidungsproblems, so scheint die Grundlage einer guten Entscheidung eine klare Definition dessen zu sein, wer wir sind und was wir wollen. Und gerade diese entscheidenden Fragen über unsere ganz persönlichen Werte, Wünsche und Leidenschaften, scheinen wir uns selten zu stellen. Das ist keine Überraschung, denn gerade die großen Themen des Lebens schieben wir allzu gerne auf.
Ich zumindest.