Als ich mich im Mai diesen Jahres auf den Weg in Richtung Frankreich machte, klebte ein Wunsch seit Wochen so hartnäckig an mir, dass selbst eine Landesgrenze und knapp neun Stunden Autofahrt ihn nicht abschütteln konnten. Ich wollte präsent sein. Ganz im Hier und Jetzt statt mit den Gedanken ständig – schon wieder oder immer noch – irgendwo anders.
Die Entschleunigung der Pandemie lange vergessen, ließen mir die ersten Monate des Jahres kaum einen Moment, um durchzuatmen. In einer bunten Mischung aus Arbeit, Wiedersehensfreude und Tatendrang versanken meine guten Vorsätze von Ruhe und Ausgeglichenheit und ich fand in den gleichen Gedanken- und Terminstrudel zurück, den ich wenige Jahre zuvor verlassen hatte. Die Reise nach Frankreich sollte ein Wendepunkt sein, denn diesmal zog es mich nicht – wie üblich – in den Trubel der Hauptstadt, sondern in das Herz des Landes: an die Loire. Eine atemberaubende Naturkulisse voller historischer Bauten, deren Schönheit ich nicht nur sehen, sondern auch unbedingt mit der Kamera einfangen wollte. Ausgestattet mit Apparat und Intention machte ich mich also auf den Weg. Doch wie so oft, kam es anders als erwartet.
Reisen fernab der Massen
Fangen wir von Vorne an: Im Sommer 2022 bin ich auf der Suche nach Reisezielen. Meine Recherche führt mich auf eine Website voller farbenfroher Landschaftsaufnahmen, deren besondere Botschaft mich abholt. Es ist die Online-Präsenz eines kleinen Reiseunternehmens, das sich auf Autorundreisen in Frankreich spezialisiert hat. Mit dem Fokus Reisen fernab der Massen, geht es um eine Abkehr vom typischen Tourismus und die Idee, Nachhaltigkeit und Bewusstsein mit in den Urlaub zu nehmen.
Beim Besuch im gerade bezogenen Unternehmenssitz in Rösrath lerne ich Thomas Kötting und das Team hinter France Naturelle persönlich kennen. Thomas organisiert seit über 15 Jahren private Reisen durch die eindrucksvollsten Gegenden Frankreichs. Wir sprechen über seine Idee des ‚bewussten‘ Reisens und seinen Wunsch, die französische Lebensart für deutsche Urlauberinnen und Urlauber erfahrbar zu machen. Er erzählt mir einige der schönsten Geschichten, die seine Kunden on the road erlebt haben und macht mich neugierig.
Das Vorgehen des kleinen Unternehmens scheint mir fast revolutionär – eine Gegenbewegung zu FOMO, Bucketlists und Insta-Travel – die Ruhe und Genuss (zurück) in die Kultur des Unterwegsseins bringt. Im Gespräch verfestigt sich mein Wunsch, diese bewusste Art des Reisens selbst auszuprobieren. Und es dauert nicht lange, bis ich mich auf den Weg mache.
Mit dem Auto durch Frankreich
Wenige Monate später sitze ich im Auto und lese das liebevoll gestaltete Buch, das mir Thomas kurz vor der Reise hat zukommen lassen. France Naturelle hat mich über die vergangenen Wochen mit verschiedenen Unterlagen auf meine Tour vorbereitet und die Vorfreude wuchs mit jedem Satz aus der Feder der Frankreichliebhaber.
Der Reiseführer ist exakt auf meine Route zugeschnitten und enthält persönliche Empfehlungen von Thomas und seinem Team, die mich vor und während des Aufenthalts leiten und inspirieren sollen. Mehrmals im Jahr besuchen sie selbst das Land, um ihre Auswahl an Aktivitäten aktuell zu halten und Geheimtipps wie auch neue Unterkünfte für ihre Kundinnen und Kunden zu entdecken. Manche der Einheimischen sprechen mittlerweile sogar sein Team an, um das Neuste aus ihrer eigenen Umgebung zu erfahren, erzählt mir Thomas schmunzelnd vor meiner Abreise.
Obwohl mein ursprüngliches Interesse der Bretagne galt, legte er mir eine Reise in die Loire-Region ans Herz, die im Übergang vom Frühjahr zum Sommer besonders schön sein soll. Auch das Burgund und die Provence standen mir als Teil des Programms von France Naturelle zur Auswahl, doch selbstverständlich folgte ich der Empfehlung des Experten und so führte mich meine Reise in die Mitte Frankreichs.
Ankunft im Loire Tal
Die Loire ist ein vollständig naturbelassener, über 1.000 km langer Fluss, an dessen Ufern mehr als 200 verschiedenen Vogelarten leben. Das die Loire umschließende Tal gilt als fruchtbarste Region des Landes und wird Garten Frankreichs genannt, weil es die ganze Nation mit Gemüse und Obst versorgt. An den Ufern des Flusses liegen rund 400 Schlösser – vorwiegend aus der Zeit der Renaissance – die bis heute gut erhalten und zumeist im Privatbesitz sind. Schon beim Betrachten der Bilder wundert es mich nicht, dass die gleichzeitig naturbelassene wie auch historische Landschaft seit über 20 Jahren Teil des UNESCO Weltkulturerbes ist.
Es ist diese besondere Mischung aus Natur und Kultur, die mich bereits in der ersten Unterkunft erwartet. Vom umliegenden Land separiert durch einen weißen Holzzaun, leitet mich die langgezogene Einfahrt des Anwesens vorbei an aufblühenden Baumgruppen und sommergrünen Wiesen. Der Weg führt zu einem historischen Herrenhaus, das umringt ist von den wohl schönsten Blumen der Region.
Schon im Vorfeld erzählte mir Thomas von den Chambre d’Hotes – der französischen Version der englischen Bed and Breakfasts – die er während seiner Zeit in Paris über Freunde und Kollegen kennenlernte. Wie seinen Erzählungen entsprungen, erwartet mich am Tisch eine lebhafte Gesellschaft aus vier weiteren Reisenden, die sich gemeinsam mit unserer Gastgeberin zu einem Glas Rosé – selbstverständlich vom Winzer aus der Region – zusammengefunden hat. Beim gemeinsamen Picknick lernen wir uns kennen und tauschen bis in die Abendstunden Reisegeschichten und Pläne für unseren Aufenthalt in Frankreich aus.
Das Öffnen der Sinne
Geweckt von den ersten Sonnenstrahlen des Tages und dem fordernden Zwitschern der heimischen Vögel, locken mich die Geräusche der erwachenden Umgebung aus dem Bett. Ich nehme mir vor, im Morgengrauen das Grundstück zu erkunden und gehe – vorbei an einer Reihe von Porträts irischer Schriftsteller – leise die Treppe hinunter in Richtung der Wohnräume.
Die Tür zur Terrasse ist gerade so weit geöffnet, dass ein angenehmer Hauch kühler Morgenluft mich im Hausflur empfängt. Aus der Küche höre ich das Klirren von Geschirr. Begleitet von ruhiger Jazzmusik bereitet unsere Gastgeberin das Frühstück vor. Ich beobachte durch einen schmalen Türspalt, wie sie frische Croissants, Gebäck und selbstgemachte Marmeladen auf dem dunklen Holztisch des Esszimmers drapiert. Der milde Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee zieht zu mir in den Flur und ich verlasse voller Vorfreude das Haus in Richtung Garten.
„Wer sich selbst nicht spürt, kann sich die Welt nicht anverwandeln, und wem die Welt stumm und taub geworden ist, dem kommt auch das Selbstgefühl abhanden.“
Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit
Auf der Terrasse empfängt mich ein Feldhase, der die Umgebung in den Morgenstunden für sich zu beanspruchen scheint. Wenig beeindruckt hoppelt er davon und überlässt mir großmütig seinen Ruheort – zumindest für den Moment. Vorbei an dem im Licht der ersten Sonnenstrahlen glitzernden Pool und einem kleinen Steinbau, der meinen Gastgebern scheinbar als Gartenhäuschen dient, führt mich mein Weg über die Weiten des Grundstücks. Ausgestattet mit der Kamera sammle ich erste Eindrücke und versuche, die Umgebung auf mich wirken zu lassen.
Ein Fotoapparat ist für mich wie eine Erweiterung meiner Sinne. Lerne ich einen neuen Ort kennen, ist er grundsätzlich an meiner Seite. Auf diversen Festplatten sammeln sich die Ergebnisse meiner Erkundungstouren. Auch aus den Jahren der analogen Fotografie habe ich noch Bilder, die eingeklebt in Alben und aufbewahrt in Schachteln meine Regale bevölkern. Für mich ist jede Aufnahmen wie ein Souvenir, ein Bruchstück der Welt und eine vom Gedächtnis unabhängige Erinnerung daran, was ich sehen und erleben durfte.
Doch an Stelle von lebendigen Bildern und Eindrücken ist mein Kopf voller Gedanken. Im Tumult der letzten Jahre hatte sich etwas entwickelt, das mich mit dem Wunsch nach Präsenz und Gegenwärtigkeit gerade von dieser besonderen Reise überzeugte. Zu oft mitgerissen von der Flut an Inhalten, die Tag für Tag auf mich einströmte, schien mein Geist wie vernebelt. Ähnlich dem Weichzeichner am Objektiv einer Kamera, lag seit längerer Zeit ein Filter über meiner Wahrnehmung, der den Eindrücken ihre Klarheit entzog. Umhüllt von einer Wolke aus Gedanken schwand so immer häufiger die Schärfe der Bilder meiner Umgebung und mit ihr nicht selten das Gefühl von Gegenwärtigkeit.
Genau hier wollte ich ansetzen und – abseits von Alltag und Informationsflut – durch das sinnliche Erkunden der Welt wieder ungefiltert an ihr teilzuhaben lernen. Und das „ursprüngliche“ Frankreich, als Land, dessen Einwohner für ihre Liebe zum Genuss und ihr Savoir Vivre bekannt waren, schien mir genau der richtige Ort, um über die Sinne zurück ins Sein finden.
Geschichte erleben
Mein erstes Ziel ist ein kleines Château aus dem 12. Jahrhundert. Wie im Reiseführer versprochen, erwarten mich weder Parkgebühren noch lange Schlangen am Eingang. Statt einer Menschenmasse leitet mich ein von Blumen gesäumter Pfad entlang der Burgmauer in Richtung Schloss.
Von Rosenduft begleitet, betrete ich das historische Gebäude durch eine ausladende Holztür. Erst als das Knarren der Balken unter meinen Füßen von den Wänden widerhallt, wird mir bewusst, dass ich nicht nur eine von wenigen, sondern die einzige Besucherin der Anlage bin. Ich nutze die Gelegenheit, um die Räumlichkeiten in aller Ruhe mit der Kamera zu erkunden und tauche ein in die Geschichten, die Architektur und Einrichtung über die einstigen Bewohner des Château erzählen.
Im Rosengarten nehme ich einen Moment Platz, um die ganze Kulisse des Schlosses wahrzunehmen. Es ist ein ungewöhnliches Gefühl, einen solchen Ort für sich zu haben. Anstatt – wie beispielsweise im Château de Versailles – von fotografierenden Menschenmassen durch die Räume geschoben zu werden, kann ich mein eigenes Tempo vorgeben. Mir Zeit nehmen und jedes Detail, das mein Interesse weckt, genau betrachten.
Beim Blick auf die Kamera in meiner Hand fällt mir auf, wie wenig Bilder ich im Schloss aufgenommen habe. Obwohl ich vollkommen ungestört hatte fotografieren können, habe ich stattdessen geschaut, gelauscht, gerochen, gefühlt und dabei ganz vergessen, die Eindrücke ebenfalls im Bild festzuhalten.
Die Qual der Wahl
Mein erster Tag in Frankreich endet mit einem Glas Wein auf der Terrasse des Gasthauses. Ich blättere durch die Reiseunterlagen und überlege, was ich in den folgenden Tagen unternehmen möchte. Erst jetzt wird mir bewusst, wie groß die Vielfalt möglicher Aktivitäten tatsächlich ist und mit jeder Seite, die ich umblättere, gewinnt das Buch in meiner Hand an Schwere.
Eigentlich sollte es einfach sein: Die Liste an möglichen Erlebnissen ist lang. Die Zeit meines Aufenthalts ist es nicht. 7 Tage bleiben mir zwischen Schlössern, Städten und Natur an der Loire. Die Reise hat durch France Naturelle einen Rahmen bekommen und ich bin es, die ihren Inhalt durch meine Entscheidungen gestalten darf. Wo liegt also mein Problem?
Mir ist bewusst, dass ich nicht jedes Schloss und jede Sehenswürdigkeit besuchen kann, doch angesichts der Fülle an Möglichkeiten, die selbst das auf Geheimtipps und Schlüsselorte fokussierte Buch mir bietet, weiß ich kaum, wo mir der Kopf steht. FOMO – die Angst, etwas zu verpassen – genau ihr wollte ich entkommen. Nun hat sie mich doch gefunden.
Ich erinnere mich an die Worte meiner Gastgeberin, die bis vor wenigen Minuten noch neben mir am Tisch saß. Sie erzählte mir, wie es sie, ihren Mann und ihre Töchter vor knapp 20 Jahren von Irland nach Frankreich zog. Eigentlich nur für wenige Jahre vorgesehen, merkte die Familie schnell, dass sie länger bleiben und das Land besser kennenlernen wollte. So wurden aus zwei Jahren nach und nach mehr als zwanzig und bis heute hat keiner von ihnen bereut, geblieben zu sein.
“I was surprised, as always, by how easy the act of leaving was, and how good it felt. The world was suddenly rich with possibility.”
Jack Kerouac, On the road
Die Geschichte der Auswanderer erleichtert das Gewicht in meinen Händen und die Anspannung fällt langsam von mir ab. Es liegt in der Natur der Dinge, dass jede Entscheidung für etwas auch verbunden ist mit dem Ausschluss von etwas anderem. Schritt für Schritt getroffen, forme ich durch sie mein Erleben, meine Erinnerungen und meinen Charakter. Fokussiere ich mich stets darauf, was ich verpassen könnte, ist jeder gelebte Moment überschattet von der Sehnsucht nach etwas anderem und macht wahre Präsenz am Ende zur Unmöglichkeit.
Beflügelt von den Worten meiner Gastgeberin markiere ich – ohne lange nachzudenken – einige Seiten mit Aktivitäten, die mir auf Anhieb gefallen. Ich trinke den letzten Tropfen Weißwein und schließe mit einem guten Gefühl den Reiseführer. Was ich in den nächsten Tagen tatsächlich erlebe, zeigt sich auf dem Weg.
Tuffsteinhöhlen und Gesang
Als nächstes führt mich meine Reise in die Region um Chinon. Die kleine Stadt war während der Belagerung von Paris der Königssitz Frankreichs und ist heute eine der am besten erhaltenen mittelalterlichen Städte überhaupt. Chinon hat etwa 8.000 Einwohner und gilt als Zentrum einer der bedeutendsten Weinregionen des Landes. Es ist also kein Wunder, dass ich in meiner zweiten Unterkunft direkt mit einem Glas Crémant empfangen werde.
Um mir die Vielfalt der regionalen Köstlichkeiten näherzubringen, hat France Naturelle einen Platz am Table d’Hôte – dem Tisch der Gastgeber – reserviert. Gemeinsam mit den anderen Gästen des Hauses erwartet mich ein selbst gekochtes Menü – natürlich mit Weinbegleitung.
Der Abend beginnt im hauseigenen Weinkeller, einer Höhle, die über verschiedene Zugänge mit dem Rest der Wohnanlage verbunden ist. In dieser ungewöhnlichen Umgebung erfahren wir von den Tuffstein-Böden der Loire-Region, die sowohl beliebtes Baumaterial der hiesigen Häuser und Schlösser als auch beste Voraussetzung für den heimischen Weinanbau sind. Die beim Abbau des Gesteins entstandenen Höhlen und Stollen dienen heute häufig als Kellerräume, werden vielerorts aber ebenfalls zum Anbau von Pilzspezialitäten genutzt. In manchen Gegenden sind darüber hinaus ganze Häuser in die Tuffsteinwände gebaut, die gerne von reichen Parisern als Wochenendwohnung genutzt werden.
Nicht nur die hervorragende Weinbegleitung und das köstliche Essen der Gastgeber machen diesen Tag zum erinnerungswürdigsten meiner Reise. Gefüllt mit angeregten Gesprächen, lautem Lachen und gemeinsamen Gesang entwickelt sich der Abend – an dem wenige Stunden zuvor neun Fremde aus unterschiedlichen Regionen der Welt aufeinander trafen – zu einem Erlebnis, das kein Foto braucht, um in Erinnerung zu bleiben.
„Mir sind viele tolle Fotos entgangen, weil ich den Moment nicht nur durch den Sucher sehen wollte.“
Farin Urlaub, Die Ärzte
Bewegt von den Eindrücken des Tages wird mir beim Gang auf mein Zimmer erstmals die Besonderheit dieser Art des Reisens bewusst. Abseits von Hotels und Apartmenthäusern, in denen ich eher selten mit Gastgebern und anderen Reisenden in Berührung komme, scheinen die Chambres d’hôtes darauf ausgelegt zu sein, mit Betreibern und Mitreisenden in Kontakt zu treten. Eine Bereicherung, deren Wert ich ohne France Naturelle niemals verstanden hätte, denn wie beim Fotografieren, bin ich es gewohnt, gerade auf Reisen den Blick der Beobachtenden einzunehmen, statt aktiver Teil des Geschehens zu sein.
Die richtige Frequenz
Auch in den Folgetagen geht mir die Geselligkeit meines bisherigen Aufenthalts nicht aus dem Sinn. Bewege ich mich in dicht besiedelten Städten oder an viel besuchten Orten, scheinen mir andere Menschen oft als Störfaktor. Ihre Präsenz und die mit ihr auf mich einströmende Informations- und Ereignisdichte, vernebelt meine Aufmerksamkeit, lenkt mich ab vom Erleben und sorgt nicht selten dafür, dass ich mich vom Außen abwende und hinter meiner Kamera verschwinde. Der Fotoapparat ist in diesen Momenten wie ein Schutzschild zwischen mir und der Welt, das mich nicht nur vom Geschehen ablenkt, sondern mir ermöglicht, die gegenwärtigen Eindrücke – wenn schon nicht in Ruhe vor Ort – zumindest in Form von Bildern im Nachhinein zu betrachten.
Bewege ich mich dagegen fernab der Massen ist meine Wahrnehmung ungestört. Es fällt mir leichter, mich auf die Situation und die Umgebung einzulassen. Und mit dem Öffnen der Sinne erlebe ich, wie auch der Griff zur Kamera seltener wird. Ich merke, dass der Apparat die Wahrnehmung eher unterbricht als das er sie intensiviert und mir wird erstmals wirklich bewusst, dass Fotografieren bedeutet, sich von einer Situation, einem Moment zu distanzieren.
Die Wahrnehmung auf das Sehen zu beschränken heißt auch, andere Sinne außer Acht zu lassen. Erleben ist dagegen nicht eindimensional und bekommt mit jedem zusätzlich aktivierten Sinn mehr Tiefe. Wie am Table d’Hôte im Zusammentreffen von Essen, Wein, Unterhaltung und Gesang. Ein Erlebnis, das durch derart intensive Sinneseindrücke in meinem Gedächtnis gespeichert ist, braucht kein Foto, um mich daran zu erinnern.
Der Soziologe Hartmut Rosa hat einen Begriff für das Empfinden dieser besonders tiefen Erfahrungen geprägt: Resonanz. Nach seinen Beobachtungen kommt es beim Erleben auf die Qualität der Beziehung an, die wir zur Welt aufbauen und pflegen. Rosa empfiehlt, sich von der Umwelt berühren und bewegen zu lassen, statt sie formen, erobern oder beherrschen zu wollen. Etablieren wir einen Zustand der Distanz – ähnlich wie beim Fotografieren – reduzieren wir unsere Fähigkeit zu Empfangen und verschließen uns gegenüber der Welt. Sie wird uns fremd und langfristig stumm. Lassen wir Resonanzerfahrungen stattdessen zu und zeigen uns erreichbar und offen für das Unerwartete, fühlen wir uns, laut Rosa, lebendig.
Raum für Schönheit
Ich sitze auf einer Mauer in dem kleinen Ort Azay-le-Rideau und beobachte die Spiegelung des vor mir liegenden Renaissance Schlosses im Wasser. Die Schönheit des Château und des umliegenden Parks laden ein zum Verweilen und verführen mich dazu, ein paar Minuten zu lesen. Ich hatte „Die Form der Schönheit“ von Frank Berzbach ganz intuitiv in meinen Koffer gepackt und während der Reise Abend für Abend darin gelesen. Das Buch ist ein Plädoyer dafür, den eigenen Sinn für Schönheit zu schärfen, um dadurch ein glücklicheres Leben zu führen. Für Berzbach ist Schönheit eine Quelle der Lebenskunst. Er beschreibt sie als heilsam und versteht sie als Speicher der Präsenz im Augenblick ihrer Schöpfung, die klaren, gelassenen Geistern entspringt.
Klarheit, Präsenz, Gelassenheit – liest man die Worte mit den Augen von Rosa, könnte man annehmen, Schönheit entspringe vor allem Momenten der Resonanz. Ich stelle mir vor, dass genau so die Grundstimmung der Gärtnerinnen und Gärtner des Château de Villandry sein muss, das ich im Anschluss besuche. Beim Spaziergang durch den imposanten Park des Schlosses lässt mich die Aussicht vom Belvedere auf die Wasser- und Gartenanlage innehalten. Gerahmt von Treppen, Springbrunnen und Rosenlauben bilden die schachbrettartig angelegten Einheiten ein eindrucksvolles Beispiel an Gartenkunst im Stil der Renaissance. Ein ganz offensichtliches Exempel für Schönheit, die Detailverliebtheit und Sorgsamkeit entspringt und die mich – beeindruckt von dieser Ko-Kreation zwischen Mensch und Natur – abermals in andächtiger Stille verweilen lässt.
„Geschwindigkeit ist das Spiel unserer Zeit, und daran ist nichts auszusetzen – außer, dass sie dazu neigt, Schönheit im Keim zu ersticken. Schönheit braucht Kontemplation.“
Christoph Thun-Hohenstein
Im Garten des Château de l’Islette lausche ich wenige Stunden später den Gesängen von Vögeln und Fröschen. Der Park des kleines Privatschlosses gleicht einem englischen Landschaftsgarten und wirkt im Vergleich zu Villandry fast naturbelassen. Den Blick auf den sich über das Grundstück schlängelnden Flusslauf gerichtet, lasse ich meine Gedanken treiben. Weit weg von Touristenmassen ist das Château mit der es umgebenden Parkanlage ein wahrer Geheimtipp. In den Wintermonaten wird l’Islette von seinen Eigentümern bewohnt, wodurch viele zeitgenössische Elemente das Innenleben des Schlosses durchziehen. Möbel, Familienfotos und Kinderzeichnungen verleihen den Räumlichkeiten eine angenehme Lebendigkeit und bereichern die historische Umgebung auf einladende Weise um die momenthafte Schönheit des Alltags.
Eine Lektion im Genießen
Man sagt, für nichts im Leben gäbe es eine Garantie. Meine Reise nach Frankreich hat mich besser verstehen lassen, was hinter diesem Satz steckt. Zu häufig bin ich mit großen Erwartungen an eine Reise herangetreten, habe Ziele „abgearbeitet“, alles mitnehmen wollen und wahrhaftige Eindrücke, versteckt hinter der Linse der Kamera, nur bedingt an mich herankommen lassen. In solchen Momenten habe ich weder meine Umgebung, noch die Menschen, die sich in ihr bewegen wirklich wahrgenommen, weil ich wie ferngesteuert von einer Sehenswürdigkeit zur anderen navigierte. Oft lag mein Fokus so sehr im Außen – auf dem Sehen (und gesehen werden?) – dass ich meine anderen Sinne fast vollständig außer Acht ließ.
Die Reise ins Loire-Tal war dagegen genau das, was ich mir erhofft hatte: ein Eintauchen in die französische Lebens- und Genusswelt. Ein Schlüssel zur Rückkehr in das Paradies der Sinne. Eine Umgebung, die mir buchstäblich die Sprache verschlug und mit jedem Satz, der nicht über meine Lippen kam, auch einen Gedanke vertrieb, der wieder Raum ließ für Klarheit.
Unterwegs wurde mir bewusst, dass ich meine Umgebung so erlebe, wie mein Körper und mein Geist sie für mich gestalten. Abhängig von der Feinfühligkeit meiner Sinnesorgane und dem, was ich im Laufe meines Lebens gelernt habe mit ihren Eindrücken zu verbinden, formt sich nach und nach meine Sicht auf die Welt.
Inspiriert von der Schönheit der mal naturbelassenen und mal vom Menschen mit geformten Landschaft der Loire, entstanden für mich unzählige Momente der Stille. Die Ruhe und Unaufgeregtheit, die ich an den meisten Orten meiner Reise erfahren durfte, erlaubten mir, herunterzufahren und ganz einfach zu sein. Offen für Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Spüren anstatt immer nur in Gedanken, fühlte ich mich wieder mit der Welt verbunden – bereit für Resonanzerfahrungen – und nahm so Menschen und Erlebnisse wahr, die andernfalls wahrscheinlich im Rauschen des Geschehens untergegangen wären. So war es am Ende das Wahrnehmen, das ich in Frankreich – neben all den wunderschönen Orten der Loire-Region – neu entdecken durfte.
(K)eine Fotoreise
Die perfekten Bildwelten in den Weiten des Internets sind für mich immer wieder Ausgangspunkt für Wünsche und Erwartungen. Verbreitet von Familien, Freunden, Vorbildern oder Unternehmen sind sie es, die Begehrlichkeiten wecken und gleichzeitig dafür verantwortlich sind, dass diese niemals ganz in Erfüllung gehen. Schließlich kann die wirkliche Welt nie den perfekt inszenierten – oft sogar noch im Nachhinein bearbeiteten – Aufnahmen gerecht werden, wenn wir sie ausschließlich mit unseren Augen wahrnehmen.
Meine Reise nach Frankreich hat mich daran erinnert, dass es meine Sinne sind, die mich aus den Gedanken in den Moment holen und mich Schönheit wahrnehmen und kreieren lassen. Und zwar nicht nur über das Sehen.
Das Aroma lokaler Weine, der Duft heimischer Rosen, die Pracht der Loire-Schlösser, das Zwitschern der Vögel in den Gartenanlagen, die erfrischende Kühle der Tuffsteinhöhlen – all diese Anker halten meine Erinnerungen an acht wundervollen Tage im Herzen Frankreichs aufrecht und holen mich – mehr als Fotografien und Videos es jemals könnten – zurück in das Gefühl, das diese besondere Reise ausgemacht hat.
„Der Mut, nein zu sagen ist der Grundstein eines gelungenen Urlaubs.“
Thomas Kötting, France Naturelle
Die Reisephilosophie von Thomas und France Naturelle hat mich für neue Begegnungen geöffnet und vor zu vielen Eindrücken bewahrt. Ich habe mich treiben lassen und gelernt, sowohl meinen eigenen Entscheidungen als auch den Empfehlungen der Experten zu vertrauen. Fernab der Massen. Ganz bei mir. Und so nehme ich statt einer gefüllten Speicherkarte diesmal eine kleine, aber dafür tief verankerte Zahl von Erinnerungen mit, die mir mein Leben lang erhalten bleiben.